
Sara Glojnarić, Skizze zu Latitudes for piano solo and video, 2021.

Herbert von Karajan, Notiz, 1955, Archiv der Ernst von Siemens Musikstiftung.

Catherine Lamb, Skizze zu two curves (for James Tenney), 2020.

Simone Movio, Struktur-Skizze zu Incanto IX, 2014/2015.

Charlotte Seither, La_gente I, Nr. 982, Acryl / Tusche auf Papier, 30×40cm, 2021.

Ulrich Kreppein, Skizze zu Caligari, Oper/Musiktheater, 2022.

Gordon Kampe, Skizze zu Fat Finger Error für Orchester, 2018.
Essayreihe der Ernst von Siemens Musikstiftung
Lydia Goehr, 2023 Musik, Maß, Klima
Ich konvertiere den Titel, den der amerikanische Autor Ray Bradbury seinem Roman Fahrenheit 451 von 1953 gab. Von Amerika nach Europa. Bradbury interessierte, bei welcher Temperatur sich Papier selbst entzündet. Bei verschiedenen Messprotokollen variierten die Ergebnisse je nach Papiergewicht und -dicke. Doch es kam Bradbury weniger auf Genauigkeit an, sondern mehr darauf, wie Politik und Vorhersagen das Schreiben von Science Fiction prägen. Politik und Vorhersagen sind zwei Themen meines Essays: schreiben mit Warnzeichen
inner- und außerhalb der ZeitWarum Vorhersagen dringender werden unter den gesellschaftlichen Bedingungen des Klimawandels, wobei eine Art des Wandels den Technologiewandel betrifft, eine zweite Art von Wandel die Bewegung zwischen akademischer Wissenschaftlichkeit und dem Schreiben für Zeitungen (wie sie auf dem Originaleinband von Bradburys Roman zu sehen sind)
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Fahrenheit 451 von Ray Bradbury
, und die dritte Art des Wandels betrifft Paradigmen des Komponierens, die in ein unruhiges soziales Muster von Produktion und Rezeption eingebettet sind.
Bradbury beschrieb eine Welt in Flammen, in der erst Bücher, dann Menschen brennen. Er ließ Bücher zu Personen werden, sodass ein Verlust von Wissen auf Papier zu einem Verlust für die Erinnerung und den Geist wurde. Bradbury war weder der Erste noch der Letzte, der eine lodernde Welt heraufbeschwor: Das „Fegefeuer der Eitelkeiten“ zerstörte in Florenz Tausende menschlicher Artefakte auf einem öffentlichen Platz, und Jahrhunderte später schilderte Nathaniel Hawthorne in einer Kurzgeschichte von 1844 eine Bücherverbrennung unter der Überschrift „Earth’s Holocaust“. Bradburys hochtemperiert verfasste Dystopie imaginierte eine zukünftige Welt, die von allen möglichen Formen von Konsum verzehrt und über die in den Schlagzeilen und Slogans der Tageszeitung berichtet wird. Die Zukunft zu Schreiben hieß für Bradbury, die Gegenwart im Schatten der Vergangenheit zu schreiben: sprich, zu schreiben mit Warnzeichen inner- und außerhalb der Zeit.
Entlang seines Texts spannte Bradbury Klanglinien aus musikalischen und nichtmusikalischen Gedanken. Diese Linien ließ er in Kopfhörern enden; „Singen der Fingerhutwespen
in ihren zugestopften Ohren“Menschen, die nun durch sie mit Maschinen verkabelt waren, konnten nicht mehr spazieren gehen. (In einer anderen Erzählung von Bradbury hält die Polizei einen Fußgänger auf der Straße an, nur weil er zu Fuß geht.) In seinem Roman beschreibt er einen „fantastischen Dirigenten, der sämtliche Sinfonien des Sengens und Verbrennens aufführt, um die Fetzen, die verkohlten Trümmer der Geschichte zu vernichten“, und eine selbstmörderische Frau namens Mildred, die sich so sehr nach dem „Singen der Fingerhutwespen in ihren zugestopften Ohren“ verzehrt, dass sie den Schrei des Himmels und das Tosen des Maschinenzeitalters um sich herum nicht hört. Ihre „Fingerhutwespen“ prophezeien eine Welt, die inmitten all des Rauschens ganz zum Verstummen gebracht wird – ähnlich wie der heutige Musikkritiker Alex Ross im Magazin New Yorker die klassische Musik des zwanzigsten Jahrhunderts zu dem Rest zählt, der Rauschen ist. Bradbury spürte die Unrast überall: eine unglückliche Familie daheim, umgeben von Wänden ohne Gestalt, Schatten oder Zeit: gemalt mit der Abstraktion des Monochromen. Eine veritable Welt ohne Eigenschaften. Seiner Ehefrau Mildred, die täglich zum Summen „elektronischer Bienen“ frühstückt, kann der entfremdete Mann, Guy Montag, nur mit einer gewissen Distanz begegnen. Täglich muss Guy Montag, von Beruf Feuerwehrmann, den hämmernden, alles erschütternden Verkehr ertragen, der draußen tobt: Klanglinien aus
musikalischen und nicht-
musikalischen GedankenDie moderne U-Bahn saugt jeden in ihr „gewaltiges Vakuum“, ihr „Donnergetöse“, ihren „puren Missklang“. In Mildreds Kopfhörer, als winzige Wesen oder Insekten personifiziert, verbergen sich die elektronischen Mechanismen, welche Worte an die „Tonfarbwände“ werfen. Mit ihren metallischen Klangwellen hämmern die Funkmuscheln genannten Kopfhörer von Seashell Radio die Menschen in die Unterwerfung. Die elektronischen Tracks boten auch Guy Montag keinen Schutz vor dem Rhythmus der modernen Zeit, in der die sich zusammenballenden Wörter einer für Werbung geschaffenen Welt herausgedroschen werden: „Zanders Zahnpasta, Zanders zauberhaftes Zahnpulver“. Bradbury sah keinen Ort, an dem man gehen, geschweige denn rennen konnte. „kleines, zigarettenschachtel-
großes Radio“Als sein alltägliches Verkehrsmittel war die U-Bahn ein modernes Instrument geworden, um Menschen zu bewegen, um „eine Million Menschen“ zu mobilisieren.
Es ist der 25. Oktober 2022 frühmorgens. Ich sitze in Frankfurt am Main in Deutschland, konvertiere Fahrenheit in Celsius. Von Amerika nach Europa. Eine Warnmeldung zu einer Bombe, die in einer Nachbarstadt gefunden wurde, erscheint auf meinem Computerbildschirm und weist mich an, „während der noch laufenden Bemühungen, die Bombe aus dem Zweiten Weltkrieg zu entschärfen, alle behördlichen Anweisungen zu befolgen“. Zurückdenkend frage ich mich zuerst, wer wohl die Bombe abwarf, und denke dann an die Nachkriegszeit, als die zurückkehrenden Mitglieder des Instituts für Sozialforschung sich weigerten, sich mit den Bedingungen des atomaren Zeitalters abzufinden, mit dem Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit, mit einer Gesellschaft, die von Industrien aufgezehrt wurde, die Kapital in Unternehmen wie Shell und Mobil investierten, deren Namen Bradbury wiederum durchaus als Werbeslogan in seinen Romanen hätte taugen können. Die kritischen Denker der Frankfurter Schule, Theodor W. Adorno und Max Horkheimer, lieferten keine Vorhersagen über die Zukunft, sondern diagnostizierten, dass die Gegenwart durch die Vergangenheit funktionierte. Die Weigerung, sich mit den Bedingungen abzufinden, bedeutete für sie nicht, stillzusitzen und sich einem Diskurs der Meister zu unterwerfen: Sie unterwarfen sämtliche Aspekte ebendieses Diskurses der Kritik. His Master’s Voice, der Stimme des Meisters zuzuhören, hieß die Meisterschaft eines Meisters zu hinterfragen.
Mein Auftrag in diesem Essay ist es, die Klimaveränderungen in den heutigen Musikinstitutionen, der Musikpraxis und den Paradigmen der modernen klassischen Musik zu untersuchen. Meine Themen sind die vorhersagende Kunst und das Werk der Zukunft und wie diese zu den elektrischen Strömen gebracht werden, die das Denken in Bewegung halten. Eingedenk der uns bis heute gegenwärtigen Worte Adornos über die Ströme der Musik erscheint es mir lohnend, die Leser*innen daran zu erinnern, was es alles bedeuten kann, den Lauf der Zeit mit dem Lauf der Währungen in der Wirtschaft zu vergleichen, wie sie von Strömen übermittelt werden, welche elektronisch strömen und die Ströme unseres täglichen Brots in der ruhelosen Verdauung unserer Gedanken Ströme der Musikin Brosamen verwandeln. Aufgefordert, die Veränderungen der Gegenwart zu messen, stelle ich fest, dass meine Antwort vor dem Hintergrund einer Extremtemperatur des „Alles und Nichts“ erfolgt, sodass ich eine Reihe von Beispielen dessen durcharbeiten kann, was bisher in all den dazwischen liegenden Strömen wie sie von Strömen übermittelt
werden, welche elektronisch
strömen und die Ströme unseres
täglichen Brots in der ruhelosen
Verdauung unserer Gedanken
in Brosamen verwandeln.geschehen ist. Was ist heute, so könnte man fragen, der Mainstream am Main?
Es fällt einem schwer, in den zahlreichen heute vorgebrachten sozialen und kulturellen Diagnosen auch einen kritischen Ansatz für Musik zu finden, die ihrerseits die Bedingungen von Kritik vor Jahrzehnten grundlegend verändert hat. In der aktuellen Forschung lesen wir vom Cross-Crossing, Crossover und der Hybridität der Genres inner- und außerhalb der Musik, von digitalen und postdigitalen Plattformen und Formaten, von Recycling, Patching, Multi-Layering, Assembling und Sampling. Sound studies hat die Musikforschung signifikant erweitert. Innovative digitale Technologien haben die Ökonomie der Musikdistribution verändert. Die anthropologischen Paradigmen einer alles inkludierenden Weltmusik haben das Repertoire so erweitert, dass es nicht mehr wiederzuerkennen ist. Doch das Erkennen ist immer noch ein Schlüsselbegriff. Wir tragen enormes Gepäck auf den Schultern und eine Art von Anerkennung ermutigt uns, in unserer Gegenwart eine tröstliche Kontinuität mit unserer Vergangenheit zu suchen; eine zweite Art von Wiederkennung verlangt von uns ein kognitives Deuten der Gegenwart, um die Vergangenheit wiederzuerkennen und sie in für uns relevante Begriffe zu überführen, die wir heute als zeitgemäß empfinden. Und dann gibt es in der Mitte oder als dritte Art eine Form von Wiedererkennen, eher ein Anerkennen, bei der das Präfix vom „erkennen“ abgespalten wird, um in der Vergangenheit nach dem zu suchen, was sich vom Gegenwärtigen unterscheidet, um sowohl die vergangenen als auch die gegenwärtigen Deutungsrahmen infrage zu stellen. Mit der Komplexität der Wiederkennung einher gehen die Konzepte von Akzeptanz und Ablehnung, Versöhnung und einer fortdauernd empfundenen Inkompatibilität. Anpassung beziehungsweise mangelnde Anpassung verleihen der hermeneutischen Aufgabe, Musikgeschichte zu schreiben, jede erdenkliche Spannung von Zeitlichkeit. Wenn zeitgenössische Musikwissenschaftler*innen wie Georgina Born mittels „digitaler Anthropologie neue Wege erforschen, die Wechselbeziehungen zwischen dem Materiellen und dem Sozialen zu konzeptualisieren, und dabei jeder Tendenz widerstehen, sie entweder aufeinander zu reduzieren oder sie unabhängig voneinander zu behandeln“, so ist dieser Widerstand immer noch ein Ruf nach kritischer Dialektik und einem Vermittlungsnetz: „Um von einer politischen Ökonomie des Internet“ zu reden, so schreibt sie, wäre nachzuweisen, dass „es so vermittelt, wie es von Musik vermittelt wird.“ Eine weitere Musikwissenschaftlerin, Lena Dražić, beschreibt in „The Field of New Music in Europe and Its Boundaries“ was die Musik vorwärts
oder rückwärts bewegtbestimmte „Inklusionen/Exklusionen“ und stellt dabei eine Strömung, die das Feld dezentriert, dem weiter bestehenden Zentrum einer europäischen Mitte gegenüber, die seit den 1960ern kaum Skrupel zeigt, die Ausweitung über den Mainstream hinaus als bloßes Anzeichen kultureller Verödung abzukanzeln. Die beiden zeitgenössischen Musikwissenschaftlerinnen, deren Publikationen 2022 erschienen, bedienen sich der kritischen Theorie, um die komplexen Fäden dessen zu verfolgen, was die Musik vorwärts oder rückwärts bewegt, wobei allerdings die Bewegungen zwischen diesen beiden Begriffen, wie die Vertreter der kritischen Theorie vor Jahrzehnten aufzeigten, nicht notwendigerweise mit Fortschritt oder Rückschritt zusammenfallen.
Am 29. Oktober 2022 besuche ich das Goethe-Haus in Frankfurt, trinke zuvor aber einen Kaffee in einem Café im Innenhof nebenan. Es nennt sich Café Utopia
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Cafe Utopia, Frankfurt/Main
und verkündet allseits auf Englisch sein Motto: THE FUTURE WAS BETTER IN THE PRESENT – Die Zukunft war in der Gegenwart besser. Ich wundere mich über den Gebrauch des Präteritums und vergleiche mit dem Deutschen. Was für einen Unterschied würde es machen, so frage ich mich, wenn es THE FUTURE IS BETTER IN THE PRESENT lautete? Sind nicht, wenn man die Gegenwart als Krisenzeit wahrnimmt, Zukunftsträume immer in der Gegenwart besser? Und sehen wir nicht unsere Gegenwart ganz überwiegend als Zeit der Krise? Was wäre, wenn man THE FUTURE WILL BE BETTER IN THE PRESENT sagte – klänge das bloß eigensinnig, vielleicht auch zu hoffnungsfroh!? Ich kehre zurück zur Vergangenheit und frage mich, ob zu Goethes Zeiten die Zukunft als besser angesehen wurde, als es heute der Fall ist. Ich google nach dem Café und erfahre, dass die Kodierung seines Farb-, Musik- und Speisedesigns einen Blick in die Vergangenheit oder sogar ein Erleben der Vergangenheit suggerieren soll. Doch war nicht etwas in jener Vergangenheit verantwortlich für die Krise, die wir nun in der Gegenwart so akut empfinden? Ich beschließe, dass es nun an der Zeit ist, mir diejenigen aus der Vergangenheit anzuschauen, die einst vorausschauten, und gehe in die Ausstellung. Das Goethe-Haus ist äußerst beeindruckend, denn es zeigt die Zuversicht derjenigen um 1800, die den Beginn und das Ende der Romantik verkündeten, die Ideale eines klassischen Zeitalters, mit all ihren Beiträgen zu Wissenschaft, Philosophie und Kunst. Ein Raum bringt uns zurück zu Beethoven, erinnert unter anderem an das Beethoven-Paradigma, das auch mein Denken als Musikphilosophin den größten Teil meines Lebens beschäftigt hat: Wie kam es dazu, dass der „Konzertsaal“ Kompositionsaufträge, Produktion, Aufführung, Distribution und Rezeption „klassischer Musik“ für die nächsten 200 Jahre reglementieren konnte? Dies allerdings mit einer ironischen Wendung, die noch überall evident ist: nämlich, dass die als „ernste Musik“ klassifizierte Musik nie ganz auf jene Leichtigkeit verzichtet hat, die nur dann, wenn sie allein der „populären“ Musik nachgesagt wird, die Welt so sehr in zwei falsche Hälften spaltet.
THE FUTURE
IS BETTER
IN THE PRESENT
Am gleichen Tag schaue ich mir abends eine Inszenierung von Richard Strauss’ Capriccio an, seiner letzten Oper von 1941. Das Regiekonzept dieses sich seiner selbst in hohem Maße bewussten, einaktigen Konversationsstücks ist nicht allzu komplex. Doch deutet alles darauf hin, dass es das auch nicht sein soll. Es verwandelt die aristokratische Madeleine in eine Pariser Widerstandskämpferin, die auf gepackten Koffern sitzend in Geigenkästen Schusswaffen und Plakate mit Aufrufen zum Widerstand versteckt, um sich, ihre reiche Herkunft und das Hoftheater negierend, schließlich als politische Sympathisantin der anderen Seite zu outen. Sie muss sich – entsprechend der Operndebatte des ausgehenden zwischen Musik und Wort entscheiden 18. Jahrhunderts – zwischen Musik und Wort entscheiden, was zu einer Entscheidung wird zwischen Liebe, Kunst und Aktion, Theater und Politik, häuslicher Sicherheit und einem Zeichen setzen. Die Inszenierung überlässt es dem Publikum, ihren Sinneswandel in das Libretto hineinzudeuten, welches rastlos oszilliert – zwischen hochwagnerianischen Warnungen und der Beihilfe zu einer Kunst für die Zukunft in Kriegszeiten.
Während ich nach der Aufführung zu Fuß nach hause zurückkehre, fällt mir der Gegensatz der beiden Opernhäuser in Frankfurt auf. Auf der einen Seite die Alte Oper
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Alte Oper, Frankfurt
Zweites Opernhaus, Frankfurt
von 1880, zerbombt und wiederaufgebaut, deren Wahlspruch noch stolz an der Stirnfassade prangt: DEM WAHREN, SCHOENEN, GUTEN. Die Fassade ist angestrahlt und trägt rechts Werbung für das amerikanische Musical Cats, links für verschiedene Musikveranstaltungen: ein philharmonisches Konzert, eine Jazzparty und ein Kammermusikkonzert. Das zweite Opernhaus ist Teil eines 1963 entworfenen Bühnenhauses. Es heißt nicht etwa Neue Oper
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Alte Oper, Frankfurt
Zweites Opernhaus, Frankfurt
– vielleicht, um keine Missverständnisse über das Programm aufkommen zu lassen –, denn es ist keine Bühne für „Neue Oper“, sondern für das Standardrepertoire, und führt zusammen mit der Alten Oper die erstmals 1808 von der Frankfurter Gesellschaft veranstalteten Museumskonzerte weiter. Die Gründung eines „Museums“, benannt nach einem Verein zur Pflege der Musen und der schönen Künste Literatur, bildende Kunst und Tonkunst, ist mir ein zweiter Anlass daran zurückzudenken, wie ich das Beethoven-Paradigma unter die Rubrik eines „imaginären Museums“ brachte, um zu erfassen, wie für die zeitliche und vergängliche Kunst der Musik als schöne Kunst des „Wahren, Guten und Schönen“ ein Werkbegriff konstruiert wurde, damit man ihre „Objekte“ wie die bleibenden Objekte der bildenden Künste Plastik und Malerei sammeln konnte.
An diesem Abend denke ich allerdings mehr an den Pariser Begriff des Musée Imaginaire, das André Malraux sich 1947 für die Distribution aller Künste vorstellte und das folglich sämtliche anderen Institutionen, die sich die Nation in einer Stadt des Hochkapitals errichtet hatte, weit übertraf. In diesem Moment wird mir klar, dass ich mich in fast jeder Stadt befinden könnte, oder in gar keiner Stadt. Ich denke an die vielen zeitgenössischen Theoretiker, die ästhetische und politische Gedankenwelten auf neue Füße stellen, um die Resistenz und die Schwächen der Mauern zu erproben, die so verzweifelt die Meisterdiskurse und Unterscheidungen zwischen Fiktion und Fakt, Möglichkeit und Tatsächlichkeit, Essenz und Schein aufrechtzuerhalten suchen. Während ich weitergehe, La Musée imaginairebin ich hin und her gerissen, ob ich die Stadt nun als stilles Palimpsest mit all seinen Lagen aus Erinnerung und Vergessen erleben soll oder die Metropole, aufgereiht als perfekte Perlenkette an den U-Bahn-Stationen, unter dem Aspekt der lärmigen, omnipräsenten Pandemie des Tourismus vor mir vorbeiziehen lassen soll. Ich erinnere mich noch an die vor beschlagenen Fenstern hochgehaltenen Plakate mit den Befreiungsparolen, die früher am Abend in der Strauss-Inszenierung die Bühne flankierten; dann in den Farben der Flagge die Solidaritätserklärung zur Befreiung der Ukraine in einem Krieg, in dem die Medienberichterstattung permanent auf die alte Rhetorik der Befreiung einer Nation vom Nationalsozialismus zurückgreift. Das Who’s who der rhetorischen Das Who’s who der rhetorischen Konstellation ist, so wird mir klar, ebenso komplex wie Daten – etwa 1808, 1941, 2022 – aneinander zu reihen um zu behaupten, dass die Zukunft in der Gegenwart besser ist, war, oder sein wird.Konstellation ist, so wird mir klar, ebenso komplex wie Daten – etwa 1808, 1941, 2022 – aneinander zu reihen um zu behaupten, dass die Zukunft in der Gegenwart besser ist, war, oder sein wird.
1970 prognostizierte der “minimalistische” Komponist Steve Reich im New Yorker Guggenheim Museum die Zukunft der Musik:
Die elektronische Musik wird nach und nach sterben und in der weiter bestehenden Musik der Menschen aufgehen, die singen und Instrumente spielen. Nicht-westliche Musik im Allgemeinen und besonders afrikanische, indonesische und indische Musik werden westlichen Musikern als Strukturmodelle dienen. Nicht als neue Klangmodelle. (Das wäre der alte Exotik-Trip.) Diejenigen von uns, die die Klänge lieben, werden hoffentlich einfach loslegen und lernen, wie man diese Musiken spielt. Musikschulen werden wieder belebt dadurch, dass sie Ausbildung in Praxis und Theorie aller Musiken der Welt anbieten. Junge Komponisten und Interpreten werden alle möglichen Arten von neuen Ensembles gründen, die aus einer oder mehreren Musiktraditionen der Welt hervorgehen.
Was Reich als „den alten Exotik-Trip“ bezeichnete, kam noch vor der zeitgenössischen Hoffnung auf eine Weltmusik, die auf kritischer Vielfalt basiert statt auf einer blinden Liebe für „das Andere“. (Heutzutage schrecken wir berechtigterweise davor zurück, bei der Vorstellung des „nichtwestlichen Anderen“ nur an „einheimische Informanten“ zu denken.) Doch Reich hoffte damals in weitaus konventionellerer Weise auf eine Rückkehr entfremdeter Elemente zu einer harmonischen Einheit. „An die Stelle von Interpreten des ernsten Tanzes“, mutmaßte er weiter, „die heute zu Musik ohne Puls oder ganz ohne Musik auftreten, werden junge Musiker und Tänzer treten und rhythmische Musik und Tanz als Form der Hochkunst wiedervereinigen.“ Und weiter prophezeite er: „Der Puls und das Konzept eines klaren tonalen Zentrums werden wieder zentrale Grundlagen neuer Musik werden.“ Mit seinen Prognosen lag er sowohl richtig als auch falsch. Lässt man einmal seine Worte zu „Ernstem“ und „Hohem“ beiseite, fällt vor allem auf, dass er unglaublich viel moderne experimentelle Arbeit in Musik und Tanz fast pauschal übergeht. Wollte er wirklich so Vieles ausblenden? An anderer Stelle äußert er sich zur „zeitgenössischen Musik und ihren Institutionen“ und merkt an, die restriktive Ausbildung von Orchestermusiker*innen im Standardrepertoire bewirke, dass sie als Berufsanfänger automatisch abgeneigt seien, neue Musik zu spielen, welche anscheinend nicht zur Tradition gehöre oder passe. „Der Puls und das Konzept eines klaren tonalen Zentrums werden wieder zentrale Grundlagen neuer Musik werden.“Da er wohl keine Möglichkeit sah, sie weiterzubilden, setzte Reich für seinen Weg in die Zukunft auf moderne Ensembles wie das französische Ensemble Intercontemporain, das niederländische Schönberg Ensemble, das deutsche Ensemble Modern, die englische London Sinfonietta und die ungarische Group 180. Reich erwähnte nicht ein amerikanisches Ensemble! Er lobte aber die reduzierte Interpret*innenzahl, die zu mehr Verantwortung führe: mehr Solo-Spiel, urteilte er, und weniger Mehrfachbesetzungen. Optimistischer sah er die elektronische Musik – ihren Musiker*innen stecke die neue Musik „in den Knochen“. Doch seinen Optimismus überschattete ein nagender Zweifel, nämlich ob Sinfonieorchester überleben könnten, wenn für sie keine „zeitgenössische Musik“ geschrieben würde. Wenn ich es mir genau überlege, könnte es aber auch genau anders herum sein: Eben das Fehlen des „Neuen“ könnte das Überleben des Orchesters gewährleisten!
28. November 2010. Alex Ross fragt in der englischen Zeitung The Guardian: „Why do we hate modern classical music?“ Aus dieser Überschrift schließen wir auf ein „Ich“, einen Wächter und Beschützer der Neuen Musik gegen das „Wir“, das heißt gegen die unzufriedenen Zuhörerschaften, die fast automatisch „immer noch mit den Zähnen knirschen“, sobald sie Werke der Zweiten Wiener Schule (Arnold Schoenberg, Alban Berg, Anton Webern) hören. Das „immer noch“ soll besagen, dass inzwischen sicherlich genug Zeit vergangen ist, um sich als Publikum an vor einem Jahrhundert komponierte Musik zu gewöhnen. Ross beschreibt die „Neue Musik“ als „Entfesselung harscher Akkorde“, und nennt Panic, ein Stück des englischen Komponisten Harrison Birtwistle von 1995, „ultra-gewalttätig“. Er erklärt dabei nicht, ob sich die Beschreibung darauf bezieht, wie verärgerte Zuhörer*innen das Stück erleben, wie er es erlebt, oder wie man diese Musik hören sollte. Wenn man jedoch bedenkt, dass das Stück unter dem Titel Panic komponiert wurde, wäre dann ein Zähneknirschen „Entfesselung harscher Akkorde“nicht sogar angemessen? Ließen nicht die Klagelieder das Zähneknirschen als tiefen biblischen Ausdruck des Leidens eines Volkes zu? Man stelle sich einmal eine Zuhörerschaft vor, deren Mienen sämtlich aussähen wie das Gesicht in Edward Munchs Schrei von 1893, oder besser noch mit zugehaltenen Ohren, als angedeuteten Bezug auf den ältesten Streit in der Literatur, wie ihn Franz von Stucks Gemälde Dissonanz
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Dissonanz, 1910 von Franz von Stuck.
von 1910 illustriert.
Ein Grundsatz der Aufklärung und Eckpfeiler der ästhetischen Theorie besagt, dass bei der Rezeption eines Kunstwerks sowohl auf dessen Inhalt beziehungsweise Sujet einzugehen ist als auch auf die Form, sodass selbst bei einem Titel wie Panic die Form die hässlichen Noten wieder in die Schönheit des Pan zurückzuverwandeln vermag. Einer Gegenposition zufolge ist es allerdings höchste Zeit, die sprichwörtliche Stille im Konzertsaal zu beenden, die jeden externen oder geräuschvollen Ausdruck von Freude und Schmerz so streng untersagt. Hier sehen wir eine weitere Bedeutung des „Rests“, der „Rauschen ist“, ein Geräusch, das beseitigt wurde, damit eine biblische Stille zu einem stillen Raum für die zum Verstummen gebrachten Konzertpublika einer „ernsten“ Musik werden konnte. Ross erwähnt, dass er eine Taschenpartitur dabei hat, um besser mitverfolgen zu können, wie sich eine Komposition entfaltet, doch dass er auch manchmal versucht ist, ebendieses Objekt zu benutzen, um es den geräuschvoll zähneknirschenden Personen in seiner Nähe um die Ohren zu schlagen. Ich vergegenwärtige mir wieder die Benimmregeln, die ich für mein Imaginäres Museum musikalischer Werke aufgestellt habe. Ich bin mir bewusst, dass auch ich gern Zuhörer*innen um Ruhe bitte, obwohl ich selbst oft geneigt bin, mit den Zähnen zu knirschen. In New York sahen Ross und ich einmal, wie das Publikum den Saal mit entschlossen lauten Schritten verließ. Wir fragten uns, ob dies lediglich aus Ahnungslosigkeit geschah oder als Akt zivilen Ungehorsams, vielleicht gegenüber einem Kaiser, Warum wir hassender ohne Kleider über die Bühne stolzierte.
In seiner Analyse des Hasses gegen moderne klassische Musik verwirft Ross die zahlreichen Erklärungen unzähliger Kritiker, Warum wir liebenHistoriker und Neurowissenschaftler. Der Fachliteratur zufolge sind Hirne nicht so programmiert, dass sie Dissonanzen lauschen, ohne abzuschweifen; der Geist möchte sich für so wenig Freude nicht durch so viel Schmerz hindurcharbeiten; Menschen besuchen Konzerte, um all die Panik draußen zu vergessen. Ross vergleicht die Musik mit anderen modernen Kunstformen wie Malerei, Literatur oder Architektur, bei denen für „Avantgarde“ hohe Preise gezahlt werden – um einen Pollock zu besitzen oder ein Exemplar von Joyce’s Ulysses oder einen Bauauftrag für ein neues Gebäude zu erteilen. Warum sollte man dann nicht auch für eine Schoenberg-Originalpartitur zahlen und akzeptieren, dass der Besitzwert nicht dem Wert der Erfahrung entspricht? Denn einen Pollock kann man besitzen, ohne ihn anzuschauen, ein Manuskript, ohne es zu lesen – während man jedoch eher Stirnrunzeln erntet, wenn man einen Bau hochzieht, ohne ihn dann zu nutzen, da die – meist für die öffentliche Hand anfallenden – Kosten gewöhnlich sehr hoch liegen. Kunst in einen Turm des Mammons zu verwandeln, ähnelt manchen Fällen von Kulturkonsum – wenn man etwa Eintrittskarten nicht der angebotenen Konzerte wegen kauft, sondern um bei den Veranstaltungen gesehen zu werden. Teure Tickets sind wie Reisesouvenirs; man nimmt sie mit heim als Ersatz für vergangene Aufführungen. Wenn Ross das Für und Wider der klassischen Musik als Sonderfall betrachtet, hat er damit zugleich Recht und Unrecht. Wesentlich bemerkenswerter ist jedoch Ross’ Diagnose, das Problem sei letztlich nicht Hass, sondern Liebe. Die übergroße Beliebtheit der „klassischen Musik“ mache alles, was sich davon unterscheidet – das „Moderne“ – automatisch unbeliebt. Damit wird Ross’ Frage Warum wir hassen zu der Frage Warum wir lieben. Diese Verschiebung bringt uns zu einem Phänomen, das vielfach als grenzwertige, quasi-religiöse Hingabe untersucht wurde: eine ästhetische Treue zu alten Meistern, die sich den gefährlichsten politischen Formen von Idolatrie und Enthusiasmus annähert. Ross zitiert einen Kritiker, der 1859 Brahms’ erstes Klavierkonzert mit den Worten durchfallen lässt, dass neue
„ Wenn die Musik der Liebe Nahrung ist ...“
Werke in Leipzig keinen Erfolg haben – vermutlich Bartholf Senffs „Es ist traurig, aber wahr, daß die im Verlaufe der diesjährigen Saison im Gewandhause vorgeführten neuen Compositionen wenig oder gar kein Glück gemacht haben“. Anders als Steve Reich jedoch wendet Ross sich nicht dem „modernen Ensemble“ zu. Er strebt vielmehr danach, den Konzertsaal ganz aus dem, wie er sagt, „goldenen Käfig“ zu befreien, um die Konzerte „zurück in die Welt der Lebenden“ zu holen. Er spricht von aktuellen Freibierund -pizzaangeboten, um Publikum anzuziehen, dann aber auch von der neuen Wächter- und Erzieherrolle, die von Musikern der alten und neuen Musik verlangt, nicht nur zu spielen, sondern auch zu vermitteln. Auch wirft er eine Frage auf: Will er wirklich gar kein Zähneknirschen mehr, oder hätte er lieber ein kritischeres Zähneknirschen angesichts eines neuen Menüs, das eine neue Art geistiger Verdauung erfordert? „Wenn die Musik der Liebe Nahrung ist …“ – wird dann „der Rest“ immer noch „Rauschen“ sein?
Der Journalist und Musikkritiker Tim Rutherford-Johnson schließt sein 2017 erschienenes Buch Music after the Fall: Modern Composition and Culture since 1989 mit Prognosen, die von „Revolutionen“ in der Entwicklung sowohl der „klassischen Musik“ als auch der „Technologie“ ausgehen. Er sieht das „Image-Problem“, dass seit den 1970ern die „neue Musik“ sowohl von Befürwortern als auch Gegnern zu stark isoliert werde, und konstatiert trotz aller Gegenbewegungen zu Integration und Kontinuität eine separatistische Ästhetik für ein separatistisches Publikum. Dennoch findet er viele verschiedene Pfade, die eingeschlagen wurden und die nur eine einzige Narrative oder einen einzigen Pfad für die Gegenwart und die Zukunft anbieten, aber dabei nicht der aufregenden Vielfalt gerecht würden, die „nach dem Fall“ ihre Flügel über „das gesamte Ökosystem“ ausbreitete. Dass Rutherford- Johnson ein Image-Problem in den 1970ern feststellt, heißt nicht, dass er dessen Auftreten in früheren Jahrzehnten leugnet, in denen auch bereits ein Für und Wider die neue Musik in einer Welt hin und her wogte, die von der Idee der Veränderung zwar verängstigt, aber eben auch fasziniert war. Im Folgenden biete ich einige weitere Beispiele von Prognosen ergänzend zu denen von Ross an, speziell solche, die ein eher schräges Motto des 20. Jahrhunderts erhalten: SCHOENBERG PLUS TECHNOLOGY WAS BETTER IN THE PRESENT – Schoenberg plus Technologie war in der Gegenwart besser. Auch ich beginne in den 1970ern und fahre dann chronologisch rückwärts fort.
– wird dann „der Rest“ immer noch „Rauschen“ sein?
In „The Crisis in Western Music and the Human Roots of Art“ urteilte der Philosoph F. G. Asenjo 1971: „Die Musik steht an einem Scheideweg. Zu keinem anderen Zeitpunkt der Geschichte gab es eine größere Auswahl an musikalischen Vokabularien und eine größere Desorientierung.“ Seinen Worten nach gab es in den 1950ern einen Sättigungspunkt, an dem die Komponisten die Tonalität einfach nicht mehr ertrugen. Im Anschluss berichtet er von einer epidemischen Unruhe und dogmatischen Vorurteilen, mit denen Musiker kompromisslos ihre Positionen absteckten. Vor allem lag ihm daran, die Leser*innen an eine exemplarische ästhetische Doktrin zu erinnern, die lange Bestand hatte, nämlich dass eine Musikkomposition nicht in erster Linie danach zu beurteilen sei, ob sie methodisch einem Prinzip oder einer Regel entspricht, sondern nach der ästhetischen Erfahrung, die sie gewährt. Wenn sie das Anhören lohne, dann lohne es sich auch, zu analysieren, ob sie unter einer Kompositionsmethode entsprechend als Komposition funktioniere oder nicht, auf ihre Form, ihre Kohärenz oder ihren inneren Zusammenhang hin. Schließlich wandte er sich der Kreativität und der Erfindungsgabe als „den Wurzeln der Kunst“ zu, richtete den Blick auf die westliche Musik, ließ ihn dann weit darüber hinaus zu nicht-westlichen Musiken schweifen und plädierte schließlich für die Befreiung dessen, was es am dringlichsten zu befreien galt: die Erfahrung jeder erdenklichen Kunstform aus den immer abgehobeneren goldenen Käfigen (akademischer) Doktrinen und Dogmen.
Bei einem Vortrag vor der Incorporated Society of Musicians über die „Zukunft der Musik“ im Jahr 1935 betonte auch der englische Komponist die Maschinen zu überflügeln, die ja nur rechnen, nicht aber erfinden könntenGeorge Dyson, er habe „eine der bemerkenswertesten Revolutionen der Kunstgeschichte“ erlebt. Für ihn war sie allerdings nun keine Revolution gegen die „Tonalität“, sondern eine technische Revolution, in deren Folge alle, die sich nicht anzupassen lernten, von Maschinen ersetzt werden würden. Anpassungsfähig zu bleiben und sich in „Gesellschaften“ für Ausbildung und Praxis weiterzubilden, bot nach seinen Worten eine Möglichkeit, die menschlichen Fähigkeiten auszubauen statt sie zu verringern und die Maschinen zu überflügeln, die ja nur rechnen, nicht aber erfinden könnten. Wer oder was, fragte er, werde zukünftig kopieren: Würde die Menschheit schließlich die Maschine kopieren (als hätte sie das nie zuvor getan)? Würde die Maschine eher ein Wer werden als ein Was? Er machte die Frage der musikalischen Handlungskompetenz eindeutig zu einer drängenden Frage von Leben und Tod, Würde die Maschine eher ein Wer werden als ein Was?von Überleben oder Untergang einer „menschlichen“ Lebensform, welche durch die positivistische Wissenschaft, verkörpert durch die (seelenlose) Maschine, bedroht sei.
Auf der Konferenz „Broadcasting and the Future of Music” zeigte der erste Herausgeber des Oxford Companion to Music, Percy Scholes, 1926 ganz andere Perspektiven auf. Er stellte die außerordentlichen Vorteile einer Technologie heraus, die das Sehen vom Hören trennte und so Blinden und Behinderten einen Zugang zur Musik eröffnete. In den neuen Tonaufnahmen erkannte er das Potenzial, eine Hörkompetenz zu kultivieren, die dazu führen würde, dass die Zuhörer*innen nicht Berühmtheiten, die sie im Blick haben, zujubelten, sondern den Interpret*innen der Aufführung, und nahm damit Genies vom Schlag eines Glenn Gould vorweg. Er sah „preiswerte Taschengeräte“ und „Funkfernsehen“ voraus, dank derer die Musikhörenden nicht mehr an einen festen Platz gebunden wären. Außerdem würden sich – teils in Anpassung an die neue Technologie – neue Harmonie- und Besetzungsformen entwickeln, wenn die Hörkompetenz Schritt hielte.
Der bekannte britische Dirigent Adrian Boult
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Adrian Boult
diagnostizierte 1934 in “The Orchestral Problem of the Future” die Zukunft des Orchesters. Von Monteverdi bis Mahler ging nach seiner Ansicht die Entwicklung fort vom soliden Orchester hin zu einer neuen, zahlen- und instrumentenmäßigen „Extravaganz“ der Besetzungen. An Schoenbergs Gurreliedern von 1911 monierte er, dass „Glockenspiel, Xylofon, Gong, Ratsche und mehrere große Eisenketten“ zu all den Streichern und Bläsern hinzugefügt wurden. Er fand es selbstaufopfernd, aber sinnlos, Musik zu komponieren, die wahrscheinlich niemals (gut) aufgeführt werden würde, bemerkte allerdings, dass es zum Lebensunterhalt beitragen konnte, nachdem Schoenbergs Noten sich „an Amerikaner und andere Reisende“ zu verkaufen begannen – im schlimmsten Fall zwar nur als bildungsbürgerliche Bücherwand-Trophäe, im besten Fall jedoch, um sich die neuen „Meisterstücke des Musikdrucks“ anzusehen und sie zu studieren. Um solche extravaganten Besetzungen zu zähmen und bändigen, würden die Orchester allerdings mehr Zeit für Proben und Vorbereitungen brauchen, so Boult. Offensichtlich war Vorbereitung Boults Hauptthema: Nach seiner Sicht der Dinge würden die Orchester zukünftig nicht nur bei privaten, sondern auch bei öffentlichen Aufführungen die Zuhörer*innen begleiten und ihnen dabei helfen zu verstehen, wie Kompositionen strukturiert sind. Dies war seiner Ansicht nach besser, als Werke immer als Fertigprodukte zu präsentieren. Anspruchsvolle Musikprogramme zu konzipieren, brauchte Zeit, und Zeit war Geld, und somit war großzügige Unterstützung der öffentlichen Hand eindeutig ein Bestandteil der Lösung.
Dass Schoenberg angegriffen wurde, als stünde nur er allein für das moderne „Image-Problem“ der „modernen Musik“, sollte so manch anderen inspirieren, ihn zu verteidigen. Und Boult selber konnte, in dem er einerseits über Schoenberg spottete, andererseits auch bessere Probebedingungen einfordern, um die neue Musik werkgerecht aufführen zu können – wie extravagant auch immer die Instrumentierung sein mochte. Zwei Jahre darauf, 1936, verfasste Richard S. Hill einen „Schoenberg’s Tone-Rows and the Tonal System of the Future“ eine zukünftige Musikalität, die in den Kompositionen als latente Möglichkeit sichtbar werde.betitelten Artikel. Ohne Umschweife erklärte er darin, das „Zwölftonsystem“ sei „keine beliebige Monstrosität“. Die Schmähungen „Beliebigkeit“ und „Artifizialität“ seien ein uralter Trick, etwas zu diskreditieren. In Anbetracht dessen begrüßte Hill im Folgenden das Tonreihensystem „als die rationale Antwort“ auf die vom schottischen Komponisten Cecil Grey bereits 1924 beschriebene „entschlossene Suche [der Musik] nach größerer Plastizität und Expressivität“. Folgerichtig, schrieb Hill weiter, werde sich (Schoenbergs) System langfristig entsprechend der musikalischen „Weiterentwicklung … als am geeignetsten … für künftige Generationen“ erweisen. Und was die „harschen“ Klänge angeht, erinnerte Hill an Schoenbergs Anmerkungen, wonach bestimmte konsonante Kombinationen so lange zu verbannen seien, bis die Zeit reif für ihre Rückkehr sei. Nach ihrer Rückkehr würden neue Werke entstehen, die im Unterschied zu den älteren Werken nie gehörte Formen von konsonanter und dissonanter Harmonie aufwiesen. Entscheidend war für Hill, dass er aus Schoenbergs Werken bereits herausspürte, wie jene Rückkehr sein könnte: eine zukünftige Musikalität, die in den Kompositionen als latente Möglichkeit sichtbar werde. Diese Ahnung des „noch nicht Seienden“ stelle sich immer dann ein, wenn der Komponist von der Tonreihe Ahnung des „noch nicht Seienden“oder von den strikten Erfordernissen der Methode abwiche. Wie später Asenjo fordert auch Hill, auf subtile Abweichungen zu lauschen und sie zu analysieren. Obwohl vorläufig durch die Theorie verbannt, seien diese in den „praktischen Experimenten in der Komposition“ bereits vorhanden.
In den 1950ern schalt der in England lebende Exilösterreicher Hans Keller diejenigen, die chronologisch argumentierend das Neue mit dem Modernen und dem Zeitgenössischen gleichsetzten. „Offensichtlich stimmt etwas mit der Geschichte nicht“, befand er bissig, „und fast nichts mit der Chronologie.“ Er schrieb von Generationskonflikten und verfälschenden Übersetzungen, etwa als die 1922 gegründete österreichische Internationale Gesellschaft für Neue Musik (IGNM) zur International Society for Contemporary Music (ISCM) wurde. Im Wettstreit der Begriffe sah er einen Sieg allein der Mittelmäßigkeit, ein willkürliches Mischen und Abgleichen, um einen „Strawinsky aus dritter Hand“ zu produzieren. Warum dritte und nicht zweite Hand? Wie so vielen Kritikern seiner Zeit, lieferten ihm die Vergleiche zwischen Strawinsky, Schoenberg und Richard Strauss die Zielscheiben für eine antagonistisch artikulierte Musikkritik, die in der Regel weniger die Meister aufs Korn nahm als ihre übereifrigen Jünger.
Noch ein letztes Beispiel: Als Reaktion auf die allgemeine „Fassungslosigkeit“ angesichts der neuen Musik schlug Michel- Dimitri Calvocoressi 1914 eine fast freudsche Analyse des offensichtlichen Unbehagens und der Be- und Entfremdung vor. Er wandte ein, sogar Ernest Newman habe gerade erst in der Musical Times über Schoenbergs Fünf Orchesterstücke geschrieben, und befand: Es ist zu spät, Schoenberg entweder einen Irren oder einen bewussten Scharlatan zu nennen. Inzwischen haben wir zu viel gute Musik aus seiner Feder, um daran zu zweifeln, dass er einer der brillantesten musikalischen Köpfe unserer Zeit ist. Allein das schon ist unzweifelhaft ein Argument, das reicht um zu überzeugen und uns motiviert, mit Engagement und Sympathie selbst die unzugänglichste und unattraktivste Musik zu studieren, die er uns gegeben hat.
Hier, vor über hundert Jahren, sehen wir also eine Anweisung an zähneknirschende Zuhörerschaften, nicht vorschnell abzulehnen, was nicht automatisch mit den eigenen Erwartungen übereinstimmt, sondern sich wie Calvocoressi der neuen Musik zu öffnen. In seiner Bewertung der Theorie und Praxis der neuen Musik fand Calvocoressi Sturm gegen die Traditionnichts, was die „gegenwärtigen Vorstellungen“ des Komponisten (Schoenberg) als „musikalischem Anarchisten oder Scharlatan“ oder „Feind von Form, Stil und Proportion“ stützen könnte, geschweige denn, dass er „Sturm gegen die Tradition laufe“ oder „der Hässlichkeit und dem Chaos ein Monument zu errichten versuche“. Doch wozu auf all das hinweisen, wenn die „gegenwärtigen Vorstellungen“ dennoch, oder vielleicht sogar gerade wegen all der Gegenbeweise fortleben? Diese Frage der fortlebenden Überzeugungen ist auch heute noch entscheidend, da sie wie in jedem vergangen Zeitalter die um sich greifende Epidemie der „öffentlichen Meinung“ bestimmt.
Es ist nun der 14. November 2022 und ich lese einen Beitrag der Guardian-Korrespondentin Harriet Sherwood darüber, dass die „Zukunft der Oper“, wie sie das englische Arts Council dekretiert, fort von den „verschwenderischen (sprich teuren) Produktionen in prächtigen Veranstaltungsorten“ hin zu „Parkplätzen, Pubs und auf Tablets“ verlagert werden soll. Für die English National Opera soll die Förderung einen Ground Zero erreichen. Damit will das Arts Council jedoch nicht etwa „die Totenglocke läuten“, sondern stellt sich eine „strahlende, aber andersartige“ Zukunft für die Oper weit außerhalb der Hauptstadt London vor. Das Thema „Metrophobie“ aufzugreifen ist schön und gut, doch es werden auch in London lebende Musiker ihre Arbeit vorübergehend oder endgültig verlieren. Beides führt uns aber zu einem allgemeineren Thema, nämlich ob, wenn es weiter ein Publikum für Oper geben soll, die Produktionen dem Rechnung tragen müssen, was die „neue“ (sprich „junge“) Generation heute interessiert: Kunst, die öffentlich möglich wird – auf Parkplätzen, in Pubs und auf Tablets. Man ist sich allgemein bewusst, dass die jüngste Pandemie eine neue technologische Kreativität inspiriert hat, wie etwa Puccinis La Bohème auf dem Parkplatz. Auf dem Parkplatz, so versichert man uns, wirke Oper weniger einschüchternd, nahbarer, und sei besser in der Lage, „Künstler mit afrikanischem oder asiatischem Hintergrund“ zu fördern. Das Ganze lässt sich so als ein gesunder „Schock des Neuen“ etikettieren. Etwas muss noch an dem nach wie vor ziemlich herablassen geführten Diskurs von Insidern und Outsidern modifiziert werden: Denn dieser Diskurs scheint implizit zu besagen, dass Outsider (Künstler mit „anderem“ Hintergrund) sich drinnen niemals wohl fühlen können. Beseitigt man das „Drinnen“, verschwindet auch das „Draußen“. Doch was uns dann bleibt ist, was wir schon so lange hatten: La Musée imaginaire. Die Oper aus London heraus zu verlagern ist ein weiterer brutaler Brexit, ausgehend von übermäßig harten Einschnitten in die aktuellen Strömungen der musikalischen Mainstream-Produktion.
All diese Begriffe, Namen und Daten sind mit einem enormen Gepäck von Ängsten befrachtet, die überall in heutigen Diskursen zutage treten. Die Temperaturen steigen über den Selbstentzündungspunkt von Papier an.Die Temperaturen steigen über den Selbstentzündungspunkt von Papier an. Oft ist vom Ende der Vorhersagen, dem Ende der Geschichte, dem Ende der großen Erzählungen die Rede – davon, die Zukunft nicht zu schließen, sondern zu öffnen. TV-Serien wie die amerikanische Serie Mozart in the Jungle beleidigen den Dschungel, indem sie Tieren unterstellen, wie Menschen in Großstädten zu sein. Doch Menschen übel zuzurichten ist ebenso Teil des Problems wie Teil seiner Lösung. Es heißt oft, das Problem der modernen Musik sei weitaus weniger drängend als das Problem der Musik insgesamt. Doch unter welchen Bedingungen, wenn doch der Reichtum und die Armut von YouTube eine globale Musik verheißt? So gehe ich schließlich zu YouTube, um nach den Veränderungen einer „klassischen“ Musik zu suchen, die noch für Orchester und Ensembles komponiert ist. Ich finde hauptsächlich programmatische, oder besser gesagt atmosphärische oder kosmische Titel über Natur und Zeit oder Titel, welche die Bedeutung des Werks auf die ersten Pfeifen und Leiern der Antike zurückführen. Es gibt nur wenige Titel, die aus einer Verweigerung heraus, wie sie in den 1960ern und 1970ern üblich war, „ohne Titel“ lauten, und weitaus weniger „absolute“ Überzeugungen, die es einst ermöglichten, ein Werk lediglich durch Genre und Nummer im Titel – wie „Sinfonie Nr. 5“ – hinreichend zu bezeichnen. Doch nicht alle zeitgenössischen Werke bestätigen die Vorhersagen einer post new musicology, die fordert dass neuen Stimmen mit der Unbekümmertheit und der Fülle neuer technischer Zuschreibungen gehört werden müssen. Georgina Born schließt ihren Überblick über Musik und digitale Medien in Nord, Süd, Ost und West mit einer langen Liste von Labels für ein neues Klangzeitalter, für ein neues Ökosystem, für eine neue planetare Anthropologie: von „empreintes DIGITALes, Alien8, [… bis hin zu] 24 Gauche, Finite State Machine und WOMB“. Der Schoß (womb) ist schwanger mit Möglichkeiten, die wesentlich über das Angebot und die Nachfrage nach Werken hinausgehen, die ins alte imaginäre Museum passen.Der Schoß (womb) ist schwanger mit Möglichkeiten, die wesentlich über das Angebot und die Nachfrage nach Werken hinausgehen, die ins alte imaginäre Museum passen. Born schließt dort, wo auch ich immer meine Bücher enden lasse, zwischen dem Alles und dem Nichts, sodass alles Bedeutungsvolle durch die hocherhitzten Beispiele dazwischen entsteht.
Ich springe im Geiste zum Café Utopia zurück und stelle fest, dass ich in meiner Konzentration auf die verschiedenen Tempus- Optionen vergessen habe, den Optimismus zu hinterfragen, den der mittlere Begriff suggeriert. Nehmen wir einmal an, das Motto lautete: THE FUTURE WAS WORSE IN THE PRESENT – die Zukunft war in der Gegenwart schlimmer? Hätte ich unter dem Vorzeichen solch dräuenden Unheils wohl einen Kaffee getrunken? Worte haben Kaufkraft: Sie können Waren verkaufen oder ausverkaufen.
Besser oder schlimmer; tot oder lebendig: Plakate fixieren uns heute, wie uns einst Gemälde mit beschämt machenden, zurechtweisenden Blicken fixierten, und verfolgen uns überallhin.
Aus dem Englischen: Sebastian Viebahn