
Timothy McCormack, Skizze zu piano piece, 2021.

Luis Codera Puzo, Patch aus Compression Music, 2022.

Simon Steen-Andersen, Foto des Textparts von Monteverdis Il Ritorno di Ulisse in Patria als Vorbereitungsmaterial für THE RETURN, 2022.

Naomi Pinnock, Landscape Words, 2022.

Lin Yang, Partiturseite und Gedicht 7:50AM, A Selective Memory, 2022.

David Hudry, Skizze zu Nachtspiegel, 2008.

Helmut Lachenmann, Manuskriptseite Nimm mich mit (Das Mädchen mit den Schwefelhölzern) für Paul Sacher zum 92. Geburtstag, 1998, Archiv der Ernst von Siemens Musikstiftung.
Essayreihe der Ernst von Siemens Musikstiftung
Tim Rutherford-Johnson, 2023
Neue Räume, neue Zeiten: Neue Musik seit 1973
Die vergangenen fünfzig Jahre zählen zu den wohl kreativsten und diversesten der Musikgeschichte. Dafür gibt es viele Gründe: Institutionen und Organisationen, die Musik fördern und zur Aufführung bringen (darunter die Ernst von Siemens Musikstiftung), wuchsen und expandierten, die Tonträgerbranche wuchs rasant, die Musikgenres differenzierten sich aus und befruchteten sich wechselseitig, nach und nach betraten Musiker*innen aller Ethnien, Geschlechter und sozialen Klassen den Konzertsaal; und ästhetische Konzepte, Technologien und Studienmöglichkeiten verbreiteten sich dank Stipendien, Massen- und Onlinemedien und preiswerter Auslandsreisen weltweit. In diesem Essay werde ich nicht versuchen, all diese Vielfalt – auf unzulängliche Weise – zu beschreiben, sondern wähle einen selektiven Ansatz. Hierbei orientiere ich mich an Manuel Castells wegweisendem dreibändigem Werk The Information Age und vor allem dem ersten, The Rise of the Network Society 1 Manuel Castells, The Information Age, 2. Aufl. (Oxford: Wiley-Blackwell, 2010). betitelten Band. Dafür gibt es drei Gründe: Erstens analysiert Castells die Zeitspanne von den frühen 1970ern bis zur Jahrtausendwende und deckt somit einen Großteil des hier untersuchten Zeitraums ab. Zweitens konzentriert er sich auf den Schnittpunkt der Entstehung und flächendeckenden Verbreitung der Informationstechnologie und der Globalisierung der Weltwirtschaft, zwei Faktoren, die – wie ich an anderer Stelle ausgeführt habe 2 Tim Rutherford-Johnson, Music after the Fall (Berkeley und Los Angeles: University of California Press, 2017). – die Musik der jüngsten Vergangenheit entscheidend mitgeprägt haben. Drittens, und das ist ausschlaggebend, spiegeln sich die strukturellen Veränderungen, die Castells als charakteristisch für das Informationszeitalter herausstellt, auch in der Musik dieses Zeitraums wider. In diesem Essay zeige ich anhand von ausgewählten Beispielen auf, wie sich diese sozialen Umbrüche in der Musik niederschlugen, die sie begleitete.
(„space of places“)Jedes Jahr kann geschichtlich bedeutsam erscheinen, doch 1973 und ein oder zwei Jahre unmittelbar davor und danach scheinen mir aufgrund der Herausforderungen, die sich (zumindest im Westen) den sozialen Institutionen und Normen stellten, besonders bemerkenswert. Dies illustriere ich an einigen wenigen spektakulären Ereignissen des Jahres 1973 in unterschiedlichen Bereichen. Meine Auflistung ist selbstverständlich nur selektiv (1973 passierte vieles, was ich nicht erwähne), doch insgesamt zeigen diese Einzelmomente die Entstehung, die Wechselwirkungen und den Zusammenhang neuer sozialer, politischer und wirtschaftlicher Organisationsformen auf, die ihrerseits zwangsläufig kreative Neuerungen in der Musik nach sich zogen. Zunächst einmal gab es 1973 zwei bedeutende Momente in der Frühgeschichte der Informationsund Kommunikationstechnologie, die heute unser Leben bestimmen. Im April gelang dem Motorola-Entwickler Martin Cooper der erste öffentlich dokumentierte Anruf mit einem mobilen Handgerät („space of flows“)(bei seinem Konkurrenten Joel S. Engel von den Bell Labs) und im Sommer entwarfen die Computerwissenschaftler Robert Kahn und Vinton Cerf die TCP/IP-Protokolle für digitale Kommunikation, die die Basis für das heutige Internet bilden. Die Entstehung dieser Technologien – und die ersten erschwinglichen Computer- Mikroprozessoren zwei Jahre zuvor – markieren für Castells den Beginn des Informationszeitalters. Zusammen mit dem Desktop-Computing, das nur wenige Jahre später aufkam, lösten sie zwei wichtige Veränderungen in der Struktur der Gesellschaft aus. („timeless time“)Die erste ist die allmähliche Ablösung des Raums der Orte („space of places“) – dem Bereich der statischen, zentralisierten Organisationen und Institutionen, aus denen die reale Welt besteht – durch einen virtuellen Raum der Ströme („space of flows“), der netzübergreifend in miteinander verschränkten digitalen Netzen 3 Beide Begriffe werden in The Information Age verwendet, wurden von Castells allerdings schon in einem früheren Buch, The Informational City: Information Technology, Economic Restructuring, and the Urban-Regional Process (Oxford: Basil Blackwell, 1989) eingeführt. entsteht. Die zweite ist die zeitlose Zeit („timeless time“), die Castells an so unterschiedlichen Phänomenen wie den Echtzeittransaktionen an den Finanzmärkten und den entrhythmisierenden Auswirkungen von Geburtenkontrolle und Fortpflanzungsmedizin auf den traditionellen Lebenszyklus aufzeigt.
In ihrer Kombination verdrängen der Raum der Ströme und die zeitlose Zeit die bewährten, zentralisierten Instanzen der räumlichen Lage und chronologischen Reihenfolge, der Walkmannach denen wir bisher unser Leben organisiert haben. Durch ihr Fehlen, so Castells, wird subjektive Erfahrung zur „hauptsächlichen, manchmal alleinigen Quelle von Bedeutung“ 4 Castells, I:3. . Flow, Zeitlosigkeit und die subjektive Organisation beider ElementeEine weitere Erfindung dieser Ära – der Walkman, eingeführt 1979 von Sony – veranschaulicht diesen Effekt. Als erstes mobiles, persönliches Musikabspielgerät erlaubte der Walkman einen völlig individuellen mobilen Modus des Musikhörens. 5 Shuhei Hosokawa, ‘The Walkman Effect’, Popular Music 4 (1984): 165–180, sowie als aktuelle Ergänzung für das 21. Jahrhundert, Michael Bull, Sound Moves: iPod Culture and Urban Experience (New York: Routledge, 2007). Erstmals war es möglich, Musikhören mit alltäglichen nichtmusikalischen Tätigkeiten wie Einkaufen, Joggen oder Busfahren zu verbinden: Die eigenen Aktivitäten ließen sich mit einem individuellen Soundtrack unterlegen und die Musik war als Mittel zur emotionalen und physischen Steuerung einsetzbar. Die drei Merkmale des Informationszeitalters – Flow, Zeitlosigkeit und die subjektive Organisation beider Elemente – fielen so in einem einzigen Objekt zusammen. Besonders interessant ist, dass die Musik dabei das Medium war, in dem alle drei Elemente eingebettet waren.
Transformationen solcher Art beschränkten sich nicht auf den Informations- und Kommunikationsbereich. Für Castells ist das Informationszeitalter „durch umfassende Destrukturierung von Organisationen, Delegitimierung von Institutionen, Auflösung großer sozialer Bewegungen und kurzlebige kulturelle Phänomene charakterisiert“ – Erscheinungen, die sich auch an zahlreichen anderen Ereignissen des Jahres 1973 beobachten lassen. 6 Castells, I:3. Am 1. Januar beispielsweise fand ein bedeutender Akt politischer Dezentralisierung statt, als sich Dänemark, Irland und Großbritannien der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft anschlossen. Ebenfalls im Januar wurde die amerikanische Hegemonie erstmals seit Ende des Zweiten Weltkriegs ernstlich in Frage gestellt, als die Pariser Verträge das militärische Eingreifen der USA in Vietnam definitiv beendeten. Innenpolitisch verwickelte sich Präsident Nixon immer tiefer in den Watergate-Skandal, der im August 1974 schließlich zu seinem Rücktritt führte und die Autorität des Präsidenten empfindlich beschädigte. Ein weiteres Ereignis mit Auswirkungen bis auf den heutigen Tag war der von Ägypten und Syrien begonnene Yom-Kippur-Krieg gegen Israel, der die Beziehungen im Nahen Osten auf lange Sicht veränderte. Das anschließend von der OAPEC gegen Israels Verbündete verhängte Ölembargo beendete die lange Periode des Nachkriegswohlstands im Westen, veranlasste Volkswirtschaften und Unternehmen, sich zur Absicherung gegen zukünftige Krisen umzuorganisieren und läutete so die heutige Ära der wirtschaftlichen Globalisierung ein.
In den frühen 1970ern erzielte auch die moderne Umweltbewegung erste Erfolge. Nach der Veröffentlichung von Rachel Carsons Silent Spring im Jahr 1962 gründete die Regierung Nixon 1970 die Environmental Protection Agency als Umweltbehörde, welche 1972 den Einsatz des umstrittenen DDT verbot (das eines der Hauptthemen von Carsons Buch war). In der Folge dieser Ereignisse nahm eine globale Protestbewegung an Fahrt auf und es entstanden Umweltparteien beziehungsweise „grüne“ Parteien. Die erste dieser national organisierten Parteien in Europa, die britische People Party, wurde ebenfalls 1973 gegründet. Sie war eine Vorläuferin der heutigen Green Party und inspiriert von Ideen aus A Blueprint for Survival von Edward Goldsmith und Robert Allen. Die Autoren sprachen sich für eine neue, auf kleinen deindustrialisierten Gemeinschaften basierende Gesellschaft aus und erachteten Dezentralisierung für das Überleben der Menschheit als notwendig.
Zwei wegweisende architektonische Meisterleistungen von 1973 – beide Bauten wurden im Oktober eröffnet – spiegelten ebenfalls dezentrale Verschiebungen von eurozentristischen zu globaleren Perspektiven wider. Das von dem dänischen Architekten Jørn Utzon entworfene Opernhaus von Sidney trug dazu bei, Australiens Image als internationales Reiseziel zu erneuern und internationale Kulturströme von den traditionellen europäischen Zentren weg zu lenken und auszubalancieren. Die Eröffnung der Bosporus- Brücke in Istanbul schuf ihrerseits eine neue Verkehrsverbindung zwischen Europa und Asien, welche die interkontinentalen Ströme von Personen, Gütern und Handel beschleunigte. Der vielleicht folgenreichste Dezentralisierungsschritt fand jedoch am 14. Mai statt, als die NASA mit Skylab die erste US-Raumstation startete; er bedeutete den Beginn einer langen Reise mit dem Ziel, unabhängig von der Erde zu leben.Dezentralisierung
für das Überleben der Menschheit
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Der vielleicht folgenreichste Dezentralisierungsschritt fand jedoch am 14. Mai statt, als die NASA mit Skylab die erste US-Raumstation startete;
Bedenkt man, dass der Ernst von Siemens Musikpreis inmitten dieser turbulenten Ära des Umbruchs geschaffen wurde, überrascht der Name des ersten Preisträgers ganz besonders. 1973 war Benjamin Britten reif für die Anerkennung seines Lebenswerks, das der Musikpreis würdigt: Er war eine einzigartige Stimme auf der internationalen Musikszene, ein Mann, der die Musikkultur seines Landes (anscheinend für immer) transformierte, ein Komponist, der zahlreiche bedeutende Werke für Bühne und Konzertsaal geschrieben hatte. Vom heutigen Standpunkt aus jedoch erscheint Britten als eine der letzten großen Figuren der klassisch-romantischen Tradition. „Er weiß um die Strömungen der Zeit, verschreibt sich aber keiner Theorie“ 7 Martin Hürlimann und Karl-Heinrich Ruppel, Ernst von Siemens-Musikpreis: Laudatio auf Benjamin Britten; Rede auf Olivier Messiaen (München: Callwey, 1976). , formulierte Martin Hürlimann in seiner Laudatio für den Komponisten. Insofern verwundert es, Britten an der Spitze einer Liste wiederzuentdecken, die auch Pierre Boulez, Karlheinz Stockhausen, Helmut Lachenmann, Brian Ferneyhough und Rebecca Saunders umfasst. Von den Komponist*innen, die den Preis nach Britten erhielten, ließe sich wohl einzig Leonard Bernstein eine gewisse Ähnlichkeit attestieren. So markierte Brittens Auszeichnung ebenso sehr einen Anfang – die Einführung einer prestigeträchtigen Ehrung für international führende Komponist*innen – wie auch das Ende eines gewissen Nachkriegsgeists. Britten selbst starb nur zwei Jahre später. So wie der Raum der Ströme den Raum der Orte ablöste, so verblasste die Ära von Britten – und von Peter Grimes, War Requiem, Gloriana und Ceremony of Carols – allmählich zu Geschichte. Die linearen Strukturen von Brittens Musik mit ihren klaren Wegmarken, Höhepunkten und Auflösungen wurden von einer nichtteleologischen Musiklogik verdrängt.
Eigentlich hatte bereits das parametrische Denken der seriellen, elektronischen und aleatorischen Praxis der 1950er und 1960er Jahre einen musikalischen Raum der Ströme geschaffen. Eine der entscheidenden musikalischen Innovationen der Die Noten selbst werden folglich nun eher als emergente Eigenschaften des Netzwerks betrachtet denn als „Orte“ innerhalb der hierarchischen Strukturen von Harmonie und Metrum.Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts war das parametrische Denken; einzelne Noten gelten demnach nicht länger als „Orte“ innerhalb der weiten Landschaft der allgemein üblichen Tonalität, sondern als einzigartige Kombinationen verschiedener musikalischer Parameter wie Tonhöhe und -dauer, Lautstärke und Klangfarbe. Da jeder Parameter eine Art Achse darstellt (etwa die Längen der Tondauern oder die Tonhöhen einer chromatischen Skala), lassen sich zwischen den Noten Linien relativer Ähnlichkeiten oder relativer Kontraste ziehen – solche Linien können mehrere Dimensionen gleichzeitig erfassen. Die Noten selbst werden folglich nun eher als emergente Eigenschaften des Netzwerks betrachtet denn als „Orte“ innerhalb der hierarchischen Strukturen von Harmonie und Metrum. Die unterschiedlichen Parameter werden zu Strömungslinien, etwa von laut nach leise, von hoch nach tief, von links nach rechts, von Flöte zu Marimba.
Ein Beispiel für durch parametrisches Denken ermöglichte musikalische Landschaften liefert der Komponist Olivier Messiaen, der den Musikpreis ein Jahr nach Britten erhielt. Messiaen, dem dank seiner Quatre études de rhythme von 1949–1950 oft die Urheberschaft der parametrischen Idee zugeschrieben wird, entwickelte eine komplette musikalische Sprache ausgehend von einer nichtlinearen und nichtteleologischen Vision von Zeit. „Die Eliminierung der Abfolge schafft undifferenzierte Zeit, was dasselbe bedeutet wie Ewigkeit“ 8 Castells, I:494. , merkt Castells an, und wie Paul Griffiths in einer umfassenden Studie darlegt, gingen Messiaens Vorstellungen von Harmonie, Rhythmus und Melodie stark in diese Richtung – sie sind „auf erhabene Weise gleichgültig gegenüber Hauptaxiomen [der westlichen Tradition] wie der diatonischen Harmonie, dem Metrum, der als Durchführung ausgestalteten Vorwärtsbewegung und der Wechselbeziehung von Rhythmus und Tonhöhenstruktur“. Aus diesem Grund, fährt Griffiths fort, sei Messiaen „der erste große Komponist, dessen Werk komplett nach – und zu einem großen Teil außerhalb – der westlichen Tradition existiert“ 9 Paul Griffiths, Olivier Messiaen and the Music of Time (London: Faber and Faber, 1985), S. 15. . Mit ihren entkoppelten Parametern und dekonstruierten Hierarchien ist Messiaens Musik eine Musik zeitloser Zeit par excellence.
Messiaens Suche nach musikalischer Ewigkeit war allerdings nicht von sozialen, ökonomischen oder technologischen Strömungen motiviert, sondern von der Mystik seines tiefen katholischen Glaubens. Doch ab den frühen 1970er Jahren schlägt sich die von Castells diagnostizierte Transformation von Zeit und Raum klar in der zeitgenössischen Musik nieder. Das zeigt ein Querschnitt durch maßgebliche, vor und nach 1973 komponierte Werke: Elliott Carters A Symphony of Three Orchestras (1976), die ein multitemporales Porträt des Dichters Hart Crane entwirft, Morton Feldmans Rothko Chapel (1971) mit ihrem merkwürdigen Mobile, dessen zirkuläre Logik Feldman durch eine eigene Intervention auflöst, nämlich eine „quasi-hebräische“ Melodie, die er als Teenager komponiert hatte,
10
Morton Feldman, ‘Rothko Chapel’, in Give my Regards to Eighth Street, Hg. B.H. Friedman (Cambridge: Exact Change, 2000), S. 126.
Luigi Nonos … sofferte onde serene … (1976) und ihre zutiefst intimen wiederkehrenden Echos, Karlheinz Stockhausens Stücke Trans (1971) und Inori (1974) mit ihren individualistischen Ritualen, und die Loop-Formen des nichtlinearen Tableaus von Harrison Birtwistles The Triumph of Time (1971), das einmal als Auseinandersetzung „mit [einer] zeitlosen Zeit“ bezeichnet wurde, in der „die Zeit vergeht und dennoch die Zeit stillzustehen scheint“ – Vorstellungen, zu denen Birtwistle entlang seiner Musikerlaufbahn immer wieder zurückkehrte.
11
Jonathan Cross, Harrison Birtwistle:
Man, Mind, Music (London: Faber and Faber, 2000), S. 175.
All diese Werke positionieren Begriffe von subjektiver Identität und Erfahrung im parametrischen Raum der Ströme, den die serielle Musik ermöglicht hatte. Doch erst an vier weiteren Werken erkennen wir die musikalischen Haupttrends, welche die neue Musik des Informationszeitalters von den 1990er Jahren bis ins 21. Jahrhundert bestimmen sollten.
Cassandra’s Dream Song für Soloflöte (1971) stellt Brian Ferneyhoughs erstes größeres Experiment in der für ihn typischen solistischen, komplexistischen Manier dar: ein Raum sich widersprechender parametrischer Ströme, eine Polyphonie aus Polyphonien von Tonhöhe, Rhythmus, Klangfarbe und Dynamik, die gleichzeitig in verschiedenste Richtungen zerren. Wie unser eingangs erwähnter Walkmanbesitzer müssen Ferneyhoughs Interpret*innen (und Zuhörer*innen) ihre persönliche Interpretation aus all diesen Faktoren konstruieren, indem sie selbst diesen Raum durchqueren. Gérard Grisey nimmt in Partiels (dem bekanntesten und ikonischsten Stück aus seinem Zyklus Les Espaces acoustiques) von 1975 dieselbe Thematik von ihrer entgegengesetzten Seite aus in den Blick. Statt Strömungslinien innerhalb eines komplexen Netzwerks zu verfolgen, generiert Grisey Komplexität aus einer einzigen Klangfarbe – in diesem Fall ein tiefes E auf der Posaune –, dessen Strömungslinien er bis an ihr entferntestes Ende verfolgt und dabei allmählich den Klang des Ensembles zu harmonischen und rhythmischen Patterns, Geräuschen und schließlich absurdem Theater dekonstruiert. Helmut Lachenmanns Pression (1969–1970) realisiert dagegen den parametrischen Raum auf physikalische Weise. ein Raum sich widersprechender parametrischer Ströme, eine Polyphonie aus PolyphonienDas titelgebende „Pression“ (Druck) abstrahiert Lachenmann zu einer Kraftlinie, die gegen etwas oder in etwas hinein verläuft und die er dann zu einer Reihe unterschiedlicher Kraftlinien auf dem Cello und um es herum entwickelt. Dazu gehören nicht nur der Druck des Bogens und der Finger auf die Saiten, sondern auch die Auf- und Abwärtsbewegungen des Bogens und der Finger auf den Saiten, die Querbewegung des Bogens über die Saiten und sogar die Bewegungen der Finger entlang des Bogens. Steve Reichs Music for 18 Musicians (1974–1976) schließlich begrenzt den parametrischen Raum radikal auf harmonisch statische, wiederkehrende pulsierende Patterns, die eine flache, selbstähnliche Landschaft aus reinem Flow entfalten.
... harmonisch statische, wiederkehrende
pulsierende Patterns, die eine flache,
selbstähnliche Landschaft aus reinem
Flow entfalten.
Wenngleich die sozialen, politischen und kulturellen Veränderungen des Informationszeitalters bereits in den 1970ern sichtbar wurden, sollte es noch über zehn Jahre dauern, bis sich ihre Konsequenzen flächendeckend auswirkten. Vor den 1990ern war das Internet noch eine Nischentechnologie mit nur begrenzten akademischen und militärischen Anwendungen. Desktop-Computing und Mobilkommunikation blieben zunächst Privilegien der Reichen und waren nicht weit verbreitet. Die kulturellen Auswirkungen der Informationstechnologie waren noch relativ gering, wie Castells anmerkt, da neue Technologien immer Zeit brauchen, um eine Volkswirtschaft zu durchdringen, und auch die Kultur, Institutionen und Prozesse dieser Volkswirtschaft sich ändern müssen, um das Potenzial neuer Technik voll zum Tragen zu bringen. 12 Castells, I:85. Nach 1989 jedoch beschleunigten sich diese Veränderungen dank der Veröffentlichung des Vorschlags von Tim Berners-Lee, ein universelles System zu schaffen, das aus mit Hyperlinks vernetzten Dokumenten besteht. Es trug ursprünglich den Namen „Mesh“ und wurde später in „World Wide Web“ umgetauft. 13 Tim Berners-Lee, ‘Information Management: A Proposal’, März 1989, Quelle: https://www.w3.org/History/1989/proposal.html. Als das World Wide Web 1991 offiziell startete, wurde es das Werkzeug, welches das Internet am meisten popularisierte und bewirkte, dass das Transformationspotenzial des Internets voll umgesetzt werden konnte.
Die Liste der oben beschriebenen Werke liefert Anhaltspunkte dafür, wie bestimmte Aspekte der Netzwerkgesellschaft, die sich in den 1970ern zu entwickeln begann, allmählich Eingang in verschiedene Bereiche der musikalischen Avantgarde fanden. Allerdings wurden ihre Neuerungen – ähnlich wie das Internet selbst – erst in den 1990ern weithin angenommen und nachvollzogen. Insbesondere der Minimalismus beziehungsweise der Spektralismus von Reich und Grisey wurden zwei der populärsten Sprachen in der zeitgenössischen Konzertmusik der letzten zwanzig Jahre. Bei den Konzerten erkennt man dies daran, wie häufig Kompositionen beispielsweise von John Adams, Philip Glass und Reich selbst, oder auch von Georg Friedrich Haas, Magnus Lindberg und Kaija Saariaho auf dem Programm stehen. Weniger populär sind beim Publikum die klanglichen und aufführungstechnischen Herausforderungen von Lachenmanns und Ferneyhoughs Musik, doch unter Komponist*innen ist ihr Einfluss womöglich noch größer, betrachtet man die Werke von Kolleg*innen wie Chaya Czernowin, Beat Furrer und Rebecca Saunders bis hin zu Richard Barrett, Liza Lim und Claus-Steffen Mahnkopf, oder die Musik der auf sie folgenden jüngeren Generationen. So viel Einfluss und Popularität hängen nicht allein von der Qualität und dem Innovationsgehalt der Musik an sich ab, sondern ebenfalls von der Begleitinfrastruktur. Dazu gehört auch, dass ein Pool von Interpret*innen bereitsteht, die auf bestimmte Aufführungspraktiken spezialisiert sind. Die Entstehung eines solchen Pools begann bereits mit der Gründung von Ensembles wie der London Sinfonietta, dem Ensemble intercontemporain und dem Ensemble Modern und setzte sich in den 1980ern mit noch weitergehender Spezialisierung von Ensembles wie dem 1986 gegründeten australischen ELISION, dem 1987 gegründeten US-amerikanischen Bang on a Can und dem 1990 gegründeten deutschen Ensemble Musikfabrik fort. Ebenso wichtig sind Räume für die Lehre, wie etwa das 1990 begonnene Internationale Kursprogramm für Komposition und Computermusik am IRCAM, und Labels wie die 1984 lancierte New Series von ECM, das 1989 gegründete britische NMC Recordings und das 1999 gestartete Label KAIROS.
Der Einfluss des Internet selbst auf die Musik war ebenfalls enorm – nicht zuletzt in Bezug darauf, wie Musik vertrieben und konsumiert wird und ihre Urheber*innen vergütet (oder nicht vergütet) werden. Doch auch auf die Musikästhetik übte es eindeutig Einfluss aus. Während einerseits die Innovationen der 1970er Jahre Eingang in den Mainstream fanden, entstanden andererseits neue Avantgarde-Bewegungen, die sich mit den neueren Erscheinungen des digitalen Zeitalters auseinander setzten. Am offensichtlichstem dem Internet verwandt ist das Genre der Netzwerkmusik, das aus den Radio- und Telefonexperimenten von Maryanne Amacher, Alvin Curran und Max Neuman in den 1960er und 1970er Jahren hervorging, doch sein naturgemäßes Habitat erst im Internet fand. Repräsentative Netzwerkmusik-Stücke sind etwa William Duckworths Cathedral (1997), Randall Packers Telemusic #1 (2000) und Telematic Concert (2009) von Pauline Oliveros und Alan Courtis. Der Einfluss des Internets auf die Musikpraxis geht jedoch über den Einsatz der Technologie an sich hinaus. Wie der Kurator Nicolas Bourriaud anmerkt, der sich in zahlreichen Publikationen mit dem Einfluss digitaler Technologie in den bildenden Künsten auseinandersetzt, ist „der Computer als Gegenstand im Vergleich zu den neuen Formen, die er hervorbringt, von sehr geringer Bedeutung.“ 14 Nicholas Bourriaud, The Radicant (New York: Lukas and Sternberg, 2009), S. 133–134.
Dies veranschaulicht ein genauerer Blick auf Komponist*innen wie Peter Ablinger, Anthony Braxton und Jennifer Walshe. Auch hier betrachten wir zwar wieder nur eine Auswahl. Doch in ihrer Gesamtheit bieten diese drei Musiker einen Überblick über die recht unterschiedlichen Arten, auf welche die in den 1970ern und 1980ern entstandenen Formen unter den Rahmenbedingungen der digitalen Ära in den 1990ern und im frühen 21. Jahrhundert weiterentwickelt wurden.
Ablingers Gesamtwerk beispielsweise kann selbst als ein Netzwerk betrachtet werden. Dieser Eindruck verfestigt sich umso mehr, je länger man auf Ablingers weit verzweigter Website mit ihren hier und dort durch Hyperlinks verbundenen Seiten, den planlos verlaufenden Pfaden und ihren zahlreichen Sackgassen unterwegs ist. Ablingers musikalische Hauptanliegen sind Rauschen, Stille, Umgebungsgeräusche, Transkription und Wahrnehmung: Sie sind die Ströme (oder Parameter) seiner Arbeit, in der einzelne Werke als Knoten an Punkten existieren, wo sich mehrere dieser Parameter schneiden. Listening Piece in Four Parts (2001) beispielsweise besteht aus einem Arrangement von vier mal fünf Stühlen, die in klanglich interessanten, sehr unterschiedlichen Umgebungen aufgestellt werden – Rauschen, Stille,
Umgebungsgeräusche,
Transkription und Wahrnehmungeinem Strand, einem Baseballplatz in einem Vorort, einem Parkplatz in der Stadt und neben einem Windpark. Für die Serie Quadraturen (1995–2000) nahm Ablinger zunächst Umgebungsklänge auf, die er dann in ein Raster von Tonhöhen und -dauern übertrug, um so quasi eine gepixelte Annäherung zur Umsetzung auf akustischen Instrumenten zu schaffen. Dieselbe Technik wendet er in Piano and Record (2012) an, wobei diesmal die Quelle jedoch eine unbespielte (also tonlose) LP ist: Die Klaviertranskription verwandelt Nebengeräusche – das statische Knistern und Knacken und das Wechselstrom-Netzbrummen des Plattenspielers – in Musik. In Studien nach der Natur (1995–2002) schließlich sind die Umgebungsgeräusche (eine Autobahn, das Meer und eine Mücke) selbst überhaupt nicht mehr präsent, sondern werden von einem Vokalsextett anhand schriftlich fixierter Noten imitiert.
Ganz ähnlich erscheint auch das Werk des Saxofonisten und Komponisten Anthony Braxton wie ein Netz, doch verlaufen hier die Strömungslinien zwischen Werken seines OEuvres. Mit seinem Quartett der 1980er Jahre (mit Pianistin Marilyn Crispell, Schlagzeuger Gerry Hemingway und Bassist Mark Dresser) entwickelte Braxton eine Methode, ganze Konzerte aus Collagen sich überlagernder Kompositionsstrukturen zu schaffen (ähnlich wie ein Club-DJ Tonträger mixt, nur sehr viel flexibler). Einige Werke spielte die Gruppe als Ganzes sukzessive, andere wurden simultan von verschiedenen Mitgliedern gespielt – meist nur als Fragmente, teils aber auch ganz. In der zwischen 1995 und 2006 entwickelten Serie Ghost Trance Music wird dieses Prinzip noch weiter getrieben. Diese Stücke basieren auf einer Art von Endlosmelodie (welche oft über viele Seiten notiert ist), die als eine Art von musikalischer Hauptstraße (oder „metaroad“) 15 Siehe Graham Lock, Forces in Motion: Anthony Braxton and the Meta-reality of Creative Music (London: Quartet Books, 1988). dient, entlang derer verschiedene Symbole diverse Abzweigungen, Abfahrten oder Kreuzungen anzeigen, die man nehmen kann: beispielsweise zu anderen Partiturseiten, zu einem anderen Kompositionssystem, oder in ein neues Werk anderswo in Braxtons OEuvre, wie etwa andere Ghost Trance-Stücke. Dieses System zielt darauf ab, „den Spieler*innen die Zügel in die Hand zu geben“, so die Violinistin und Konzertmeisterin von Braxtons Tri-Centric Foundation Orchestra, Erica Dicker, „ihre Absichten in die Navigation der Aufführung miteinzubeziehen und so die Struktur der Aufführung als solche mitzubestimmen“ 16 Erica Dicker, ‘Ghost Trance Music’, Sound American 16 (o.D.), http://archive.soundamerican.org/ sa_archive/sa16/sa16-ghost-trance-music.html. . Ghost Trance Music ist ein Paradebeispiel von Musik als Raum der Ströme, denn in ihr lässt sich jeder Punkt der Landschaft sofort in jeden beliebigen anderen verwandeln.
THIS IS WHY PEOPLE O.D. ON PILLS/AND JUMP FROM THE GOLDEN GATE BRIDGE (2004) von Jennifer Walshe ist zwar ein relativ frühes Werk der Komponistin – leichter zu verstehen ist Walshes Musikästhetik anhand von späteren Werken wie EVERYTHING IS IMPORTANT (2016) für Stimme, Streichquartett und Film und der Multimedia-Oper TIME TIME TIME (2019) „Lerne Skateboardfahren, wie rudimentär auch immer“für neun Performer*innen –, doch stellt es eine der reinsten Studien von Flow in der Musik des 21. Jahrhunderts dar. Die Partitur beginnt mit der Anweisung „Lerne Skateboardfahren, wie rudimentär auch immer“. Der dann folgende Text setzt sich mit realen und imaginären Skating-Umgebungen auseinander und entwickelt eine Vorstellung davon, wie es sich anfühlen könnte, sie zu durchskaten. Diesen Parcours – mit seinen im Konflikt stehenden Linien von Flow und Reibung, Gleichgewicht und Schwerkraft – übersetzt dann das Instrument der aufführenden Person, die sich auf eine einzige Tonhöhe beschränkt, um möglichst viel Aufmerksamkeit auf die übermittelten physikalischen Kräfte zu lenken.
Alle drei Komponist*innen liefern Beispiele eines parametrisch organisierten Raums der Ströme, der auf eine Weise erweitert beziehungsweise weiterentwickelt ist, welche die Komponist*innen der 1970er Jahren erst ermöglichten (wenn nicht sogar vorwegnahmen). In der Ausformulierung der drei Arbeiten spiegelt sich wider, wie viel tiefer die Strukturen des Informationszeitalters das Alltagsbewusstsein zu Beginn des 21. Jahrhunderts durchdrungen hatten. Auch lässt sich an ihnen eine stärkere Präsenz des subjektiven Ichs als ästhetisches und strukturierendes Prinzip erkennen. Die musikalischen Qualitäten von Ablingers Hörstücken konstituieren sich komplett im Denken ihrer Hörer*innen und die Transkriptionsprozesse von Quadraturen und Piano and Record hinterfragen die Idee des objektiven Hörens. In Ghost Trance Music befeuert Braxton die fließende Reorganisation der Form ausgehend von momentanen, spontanen Entscheidungen der Spielenden (und natürlich von der musikalischen Landschaft, welche allein Braxtons eigener musikalischer Entwicklung entspringt). Und Walshes Solist:in konstruiert Musik aus der ultimativ subjektiven Erfahrung des physischen Flow, aus den Kurven und Carves eines imaginären Skateboard-Parcours.
Wie geht es aber nun weiter mit dem Raum der Ströme? In vielerlei Hinsicht ist die von Castells vorausgesehene Netzwerkgesellschaft erst mit der Covid-19-Pandemie vollends bei uns angekommen. Der Raum der Ströme beschränkte sich nicht mehr länger auf elitäre, abgehobene Zirkel der Finanz- und Unternehmenswelt, sondern zog in unsere Haushalte ein. Der einzige „Ort“
war ein Bildschirm.
Alles war überall,
alles gleichzeitig, ständig.Grenzen zwischen Öffentlichem und Privatem, Arbeit und Zuhause, Ich und Bildschirm lösten sich auf. Die Corona-Zeit war eine wirklich zeitlose Zeit, eine Ära ohne Zukunft oder Vergangenheit, ein endloses Jetzt. Das traf nicht nur in emotionaler Hinsicht zu (ohne den strukturierenden Einfluss von Verabredungen, sozialen Verpflichtungen und Feiern fühlte sich jeder Tag für uns gleich an), sondern auch in praktischer: Konzerte, Filme, Theater – alles konnten wir nach Lust und Laune streamen, ohne lang zu planen; online angesetzte „Meetings“ konnten sofort stattfinden, ohne dass wir den Ort wechseln mussten. Der einzige „Ort“ war ein Bildschirm. Alles war überall, alles gleichzeitig, ständig.
Zwangsläufig spiegelten sich diese Intensivierungen auch in der Musik wider. Dies zeigt sich an Hunderten von Beispielen – ich nenne hier nur einige – wie den zeit- und raumlosen Kooperationen für Richard Barretts Binary Systems (2020) 17 Richard Barrett, mit Daryl Buckley, Ivana Grahovac, Lori Freedman, Anne La Bergh und Lê Quan Ninh, binary systems (Selbstpublikation, 2021), https://richardbarrett.bandcamp.com/album/binary-systems. und Jazz Codes (2022) 18 Moor Mother, Jazz Codes (ANTI-, 2022), https://moormother.bandcamp.com/album/jazz-codes. von Moor Mother (alias Camae Ayewa), zwei Alben, die aus kurzen Soloaufnahmen anderer Interpret*innen entstanden, wobei die Aufnahmen als Ausgangsmaterial zu vollkommen neuen Kompositionen dienten. Oder an den „haushaltsnahen“ Klangräumen von Sylvia Halletts Tree Time (mit Streichinstrumenten, die aus Holz vom wild wuchernden Wald nebenan gefertigt sind) 19 Sylvia Hallett, Tree Time (Selbstpublikation, 2020), https://sylviahallett.bandcamp.com/album/tree-time. , an Laura Cannells Antiphony of the Trees (Dialoge mit Vogelgesang aus dem Garten) 20 Laura Cannell, Antiphony of the Trees (Brawl, 2020), https://brawlrecords.bandcamp.com/album/antiphonyof-the-trees. und an den planlosen Internet- Bildschirmlandschaften von Alexander Schuberts Browsing, Idling, Investigating, Dreaming. 21 ‘Alexander Schubert: Browsing, Idling, Investigating, Dreaming’, Bastard Assignments, YouTube, 16. Juni 2020, https://www.youtube.com/watch?v=YAhaYcA9zuQ. Oder auch an der durch Lockdown und Quarantänebestimmungen bedingten Verschmelzung von Komponist*in und Interpret*in in einem Maß, das wir womöglich seit dem achtzehnten Jahrhundert nicht mehr erlebt haben: etwa Pamela Z in ihrer Wohnung/Aufnahmestudio mit nun nutzlosen Requisiten ihrer Bühnenauftritte im Hintergrund, 22 ‘The Quarantine Concerts – Pamela Z – June 27, 2020’, Experimental Sound Studio, YouTube, 11. Juli 2020, https://www.youtube.com/watch?v=pM9_mACgsuY. Nomi Epsteins Werk Object Relations, das den Raum und Objekte ihrer Wohnung erkundet und nichtdiegetische und dann diegetische Performances im Zuge der Einspielung ihres Solo for Piano, part 2: Dyads dokumentiert, 23 ‘Gray Sound Sessions, Vol. 7, Act 1: Nomi Epstein’, Gray Center, YouTube, 24. Juni 2020, https://www.youtube.com/watch?v=WM2_wbDgXCY. oder Tim Parkinsons Reinszenierung der ersten Szene seiner Oper Time with People für Playmobil-Spielzeugfiguren. 24 ‘The Quarantine Concerts – Angharad Davies/Tim Parkinson – April 19, 2020’, Experimental Sound Studio, YouTube, 23. April 2020, https://www.youtube.com/watch?v=7pisiDTT0gk. Welche Konsequenzen für die Musik der nächsten fünfzig Jahre diese jüngste Rekonfiguration unserer Zeiten und Räume nach sich ziehen wird, lässt sich schwer sagen. Castells schreibt in seinem Vorwort zu The Information Age: „Letztlich sind alle größeren sozialen Veränderungen gekennzeichnet von einer Transformation von Raum und Zeit in der menschlichen Erfahrung.“ 25 Castells, I:xxxi. Auch die Musik, die ja der Inbegriff einer raum-zeitlichen Kunstform ist, wird zweifellos transformiert werden, so wie es immer schon der Fall war.